‚Börse Online‘-Interview mit dem Wirtschaftshistoriker Nikolaus Wolf
Frankfurt (ots) – Größte Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs / Lob für Krisen-Management der Regierungen und Notenbanken / Radikalisierung durch hohe Arbeitslosigkeit in den Peripheriestaaten befürchtet / Investitionsoffensive in Randstaaten dürfe Anreize zu echten Strukturreformen nicht schwächen / Höhrere Preissteigerungsraten erwartet
Bei der aktuellen Krise in Europa handelt es sich dem Wirtschaftshistoriker Nikolaus Wolf zufolge um „die größte Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs, die in ihrer Dimension durchaus mit der Weltwirtschaftskrise vergleichbar ist.“ Das sagte Wolf, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin, im Interview mit dem Anlegermagazin ‚Börse Online‘ (Ausgabe 10/2012, EVT 1. März). Regierungen und Notenbanken hätten im Großen und Ganzen vernünftig gehandelt – ein Beispiel hierfür sei auch die Rettung von Banken. „Welche Folgen eine solche Pleite für die Finanzmärkte und die Weltwirtschaft haben kann, hat schon der Untergang der Creditanstalt 1931 gezeigt – wie leider auch die Lehman-Pleite.“
Es sei illusorisch zu glauben, Staaten wie Griechenland und Portugal könnten durch eine interne Abwertung – also vor allem Lohnkürzungen – mit konkurrenzlos billig produzierenden Ländern wie China mithalten. „Was diese Volkswirtschaften brauchen, sind Hightechindustrien, um mehr Wirtschaftswachstum zu schaffen.“ Notwendig seien auch eine Harmonisierung der Fiskalpolitik, eine erhöhte Arbeitsmobilität und Investitionen in Infrastruktur und Bildung.
Sorgen bereitet Wolf die hohe Arbeitslosigkeit in den Peripheriestaaten. Die Jahre zwischen den Weltkriegen hätten gezeigt, dass sie zu einer Radikalisierung führen könne. „Die Politiker sollten alles unternehmen, um die Lage zu entschärfen“, mahnte der Wirtschaftshistoriker im Gespräch mit ‚Börse Online‘. Dazu bedürfe es einer gezielten Investitionsoffensive in den Randstaaten. „Die Herausforderung ist, die Programme so zu gestalten, dass die Anreize zu echten Strukturreformen nicht geschwächt werden.“
Problematisch sei, dass Sparpakete und Transferzahlungen alle Steuerzahler betreffen, aber nicht demokratisch legitimiert seien, sondern technokratisch geregelt würden. „Auch wenn mehr Demokratie nicht automatisch mehr Stabilität bringt, ist das wachsende Demokratiedefizit auf Dauer die größte Gefahr für die Euro-Zone“, fürchtet Wolf.
Zur Frage, ob krisenbedingte Inflationsängste der Anleger berechtigt sind, meinte er: „Hyperinflation werden wir nicht sehen, aber die bei den Notenbanken derzeit noch vorherrschende Ansicht, eine Inflationsrate von zwei Prozent sei optimal, könnte sich ändern.“ Auf mittlere Sicht seien Raten von vier bis fünf Prozent wahrscheinlich.
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